Arsen und Spitzenhäubchen in Bibliotheken?

Wer? Wann? Wo? - Wieso?

Blankes Entsetzen – wie ein Lauffeuer breitete es sich im Februar 2024 im Land der Dichter und Denker aus. Der Gebrauch von Büchern kann lebensgefährlich sein, ja selbst zum Tode führen. Dabei handelt es sich nicht um toxische Wirkung des geistigen Inhalts, sondern um farbige Bestandteile des bedruckten Materials, die furchtbares Unheil stiften können.

Die Schreckensmeldung kam aus der Ostwestfalenmetropole Bielefeld. Die dortige Universität hat, quasi über Nacht, 60.000 (in Worten: sechzigtausend) Bücher ihrer zugehörigen Bibliothek, allesamt Druckwerke aus dem 19. Jahrundert, für die Ausleihe gesperrt. Die wissbegierigen Studenten sind zwar von den Quellen der akademischen Erkenntnisse abgeschnitten, doch im leiblichen Wohlergehen jetzt abgesichert.

Worum geht es? Es geht um Arsen (AS,33). Wie jetzt? Was ist daran so aufregend? Kennt man doch. – Von wegen!

Alle Facetten und Dimensionen zu Papier gebracht würden allein eine Bibliothek füllen, so umfangreich und vielgestaltig sind die Fakten. Sie sind fast so alt wie die Menschheit, denn selbst in den Haaren vom „Ötzi“ im Alpeneis hat man diesen gefährlichen Stoff gefunden. Seit mindestens 5000 Jahren also sind wir von ihm um und um belastet. Was waren es noch für Zeiten, als Hollywood uns unbekümmertes Lachen schenkte, wenn Cary Grant sich filmreif umtriebig bemühte, seine beiden Spitzenhäubchen Tanten davon abzubringen, alleinstehende Altersgenossen mit einer Prise Arsen liebevoll ins Jenseits zu befördern..

Die raue Wirklichkeit dagegen ist bitterernst. Nach der Entdeckung eines findigen österreichischen Chemielaboranten wurde die hochgiftige Substanz auch zur Zubereitung einer wunderbar leuchtenden Farbe, dem „Schweinfurter Grün“, weltläufig auch als „Pariser Grün“ bezeichnet, genutzt, und fand damit eine weitere desaströse Verbreitung. Denn sogar bei der Produktion von Büchern in der Zeit zwischen 1800 und 1900 wurde die giftige Farbe eingesetzt. Betroffen sind Werke mit grünen Einbänden, Buchschnitten, Titelschildern, Spiegeln oder Vorsatzblättern.

Wie sich nach jüngerer wissenschaftlicher Erkenntnis, der neben der Uni Bielefeld zahlreiche andere Bibliotheken folgten, herausgestellt hat, ist die Benutzung solcher Bücher als hoch gesundheitgefährdend einzustufen. Dringend wird davor gewarnt, die Bände mit Grünschnitt anzufassen. Der auf ihnen angesammelte Staub könne möglicherweise Arsen enthalten und eingeatmet werden oder durch das Anfassen der Bände Arsen in die Augen geraten. Man mag sich gar nicht ausdenken, wieviel Generationen von Studenten jahrzehntelang dieser Gefahr unbekannterweise schutzlos ausgesetzt waren.

Gleichwohl wollen wir unsere Leser hier vor dem Katalog der nachwirkenden physischen und psychischen Implikationen verschonen. Denn Bielefeld gibt Anlass auch zur Hoffnung, „solange die Bücher im Regal stehen, gelten sie als unbedenklich.“ Da nimmt man doch erleichtert in Kauf, wenn die Transformation des historischen Geistesguts in die Gegenwart zum Erliegen kommt.

© gaidaconsult, München Glyptothek

Wie so oft gibt es in Bayern eine freistaatliche Herangehensweise auch an dieses akute Problem. Alle sechs vom Bayerischen Rundfunk befragten Univerisitätsbibliotheken bekundeten, dass sie die potentielle Gefährdung schon lange erkannt hätten, sie jedoch als nachrangig betrachteten, denn „weder im Benutzungsalltag noch innerbetrieblich bei Einhaltung der Hygieneregeln und des gesunden Menschenverstandes spiele das mutmaßliche Risiko eine Rolle“ (Uni München), zumal sie mit entsprechenden vorsorglichen Maßnahmen gegen Schäden welcher Art auch immer gewappnet seien.  

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, etwa durch eine geschulte Lesesaalaufsicht (Uni Augsburg) oder „dass das Anlecken der Finger zum Umblättern untersagt ist und historische Buchbestände mit speziellen Baumwollhandschuhen für empfindliche Dokumente zu bearbeiten sind“ (Uni Bamberg, deren Bibliothek bei 1,6 Millionen Büchern im Bestand immerhin etwa 41.000 Bände aus dem betroffenen Zeitraum zählt). Damit wird der Besuch einer Bibliothek neben der haptischen zur echten intellektuellen Herausforderung.

Im übrigen, so der abwiegelnde Grundtenor der bibliothekarischen Äußerungen, würde der wissenschaftliche Forscherdrang mehr und mehr aus digitalisierten Konvoluten befriedigt. Schon im Oktober 2022 hatte die Bayerische Staatsbibliothek vermeldet, dass ihr dreimillionstes Digitalisat online gestellt wurde. Die Zahl von drei Millionen (3.000.000) digitalisierten Handschriften, Inkunabeln, seltenen Drucken, Büchern, Zeitungsausgaben, Bildern und Sondermaterialien entspräche rund 400 Millionen jederzeit weltweit frei online verfügbaren Bilddateien und bedeute für die Langzeitarchivierung mehr als 1,1 Peta-Byte Speicherplatz.

Die Zukunft hat schon begonnen. Kein fingerfeuchter Seitenwechsel mehr. Der humane Geist bleibt ungebrochen. Vivat IQ!

(Quellen: https://blog.ub.uni-bielefeld.de/?p=12950,  https://www.br.de/nachrichten/kultur/arsen-gefahr-in-alten-buechern-bibliotheken-in-bayern-sehen-viel-laerm-um-nichts,U5atU4j, https://www.bsb-muenchen.de)

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